Abfallhierarchie – wer trägt die Verantwortung?

Gleich zu Beginn wagen wir einen Blick in die Vergangenheit und betrachten einen Zeitpunkt, der 50 Jahre zurückliegt. Am 2. März 1972 stelle der Club of Rome seine Studie „Die Grenzen des Wachstums“ (The Limits of Growth) vor. Die Computer-Technik steckte noch in den Kinderschuhen, doch sie ermöglichte Berechnungen, um Vorhersagen über die Entwicklung auf unserem Planeten zu treffen, wenn sich das Wirtschaftswachstum weiter fortsetzt, dadurch immer mehr Rohstoffe gewonnen werden und zugleich Abfälle und Umweltgifte in die Umwelt eingebracht werden. Die Botschaft damals: „Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unvermindert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht.“

50 Jahre später hat der Weltklimarat (IPCC) mit seinem Sachstandsbericht zu den Folgen des Klimawandels für Mensch und Natur nachgelegt. Er mahnt zum Handeln, da sonst das Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, nicht erreicht wird. Was ist dazwischen passiert? Zu wenig! Am Beispiel der Abfallwirtschaft können wir einen Blick auf die Verantwortlichkeiten richten, die es zu adressieren gilt.

Ein gesellschaftlicher Kraftakt

Die Abfallwirtschaft hat in den letzten 50 Jahren einen umfassenden Wandel vollzogen. 1972 wurde das Abfallbeseitigungsgesetz in Kraft gesetzt, das wilde Müllkippen verbot. 1991 trat die "Verordnung über die Vermeidung und Verwertung von Verpackungsabfällen" in Kraft, um die Sammlung, Sortierung und Verwertung in die Verantwortung der Hersteller zu geben. 2005 folgte das Deponierungsverbot für nicht vorbehandelte Abfälle und seit 2012 gibt es das Kreislaufwirtschaftsgesetz, in dem die fünfstufige Abfallhierarchie definiert ist, zu der sich die EU und ihre Mitgliedstaaten mit der Abfallrahmenrichtlinie (Richtlinie 2008/98/EG) verpflichtet haben. An erster und wichtigster Stelle steht dabei die Abfallvermeidung, gefolgt von der Vorbereitung zur Wiederverwendung durch Reinigung oder Reparatur. Erst wenn diese Möglichkeiten erschöpft sind, sollen Abfälle dem Recycling, der Verwertung und schließlich der Beseitigung zugeführt werden. Auch das Land Nordrhein-Westfalen hat seit 2022 ein eigenes Kreislaufwirtschaftsgesetz. Geregelt hat der Staat also in den vergangenen 50 Jahren einiges, aber schlussendlich nicht genug damit erreicht. Woran liegt das? Um das zu verstehen, müssen wir unseren Blick nochmal etwas weiten.

Nachträglich etwas einzuschränken, was bisher keiner Regulierung unterlag, unterliegt schnell dem Narrativ eines Eingriffs in die Freiheit. Sie wird uns schließlich in Artikel 2 des Grundgesetzes garantiert. Drei Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit:

  1. Wer täglich Fleisch isst und sich daran gewöhnt hat, für den greift der „Veggieday“ in der Kantine scheinbar in die freie Entfaltung der Persönlichkeit ein.
  2. Wer auf der Autobahn gerne mal „Vollgas“ gibt, der sieht im Tempolimit vorgeblich einen Eingriff in die Freiheit, ganz nach dem Motto „freie Fahrt für freie Bürger“.
  3. Wer am Abfalleimer zur Trennung aufgefordert ist, insbesondere bei Verpackungen sogar den Deckel vom Joghurtbecher abreißen muss und für so manchen besonders gefährlichen Müll, den wir routiniert im Alltag erzeugen, zum Wertstoffhof fahren muss, fühlt sich von den vielen Regeln drangsaliert.

Ist die Freiheit also in Gefahr? Ja, das ist sie! Das höchste Gericht der Bundesrepublik Deutschland – das Bundesverfassungsgericht – hat diesen Zustand festgestellt und den Gesetzgeber beauftragt, seiner Aufgabe entsprechend gerecht zu werden. So umfasst die Schutzpflicht des Staates auch die Verpflichtung, Leben und Gesundheit vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen. Er bedroht die Freiheit der Menschheit, jedoch im Wesentlichen Freiheiten der Generationen, die noch nicht oder noch nicht so lange auf diesem Planeten leben. Nun ist in den vergangenen 50 Jahren häufig das passiert, was die genannten drei Beispiele zeigen: der Fokus einer Diskussion wird verschoben und zu einer Frage der persönlichen Freiheit gemacht. Diese Methode nennt sich auch „Swing the question over to the freedom-of-choice issue“. Und hierin liegt eine Verantwortungsverweigerung der Hersteller*innen bzw. Inverkehrbringer*innen, die davon profitieren, dass zugleich ein Informationsdefizit besteht.

Das Modell der Marktwirtschaft, in dem keine Regulierung benötigt wird, geht unter anderem von dem Ideal der vollständig informierten Marktteilnehmer*innen aus. Wer würde schon ein Produkt kaufen wollen, das ökologische und soziale Schäden mit sich bringt? Im Modell gibt es dadurch die vollkommene Konkurrenz und damit regulieren sich die Marktkräfte von Geisterhand. Wirtschaftswissenschaften sind jedoch keine Naturwissenschaft und die vollständig informierten Verbraucher*innen sind eine unrealistische Annahme. Inverkehrbringer*innen kennen die Schäden ihrer Produkte unterdessen sehr gut. Die Tabakindustrie kannte schon früh die Schäden, die das Rauchen auslöst (Bericht des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages zu Gesundheitsgefahren durch Tabakkonsum). Die großen Ölkonzerne gehörten zu den ersten, die von den Folgen für das Klima durch den steigenden CO₂-Ausstoß wussten und die Lebensmittelindustrie steht an der Schwelle dazu, ihren Einsatz von Zucker deutlich reduzieren zu müssen, weil Gesundheitsschäden nicht mehr geleugnet werden können. Das nennt sich Informationsasymmetrie und führt zu Marktversagen.

Aufklärung für eine funktionierende Kreislaufwirtschaft

Sie alle versuchen, so lange wie möglich von der sogenannten Externalisierung der Kosten zu profitieren. Das bedeutet, dass Schäden für die Umwelt am Ende von der Allgemeinheit getragen werden, weil sie sich nicht schon im Kaufpreis niederschlagen. Produzenten denken regelmäßig nicht „cradle to cradle“ (von der Wiege zur Wiege), also betrachten nicht den gesamten Lebenszyklus ihres Produktes. Die Verantwortung wird auf Verbraucher*innen verlagert. Sie sind dafür verantwortlich, sich selbständig über Rohstoffe, Produktion, Lebensdauer und Verwertung zu informieren, bevor sie ihre Kaufentscheidung treffen. So verschiebt sich die Verantwortung für eine funktionierende Kreislaufwirtschaft weg von der Industrie. Und Verbraucher*innen, die sich an einen Lebensstandard, Komfort und Bequemlichkeit gewöhnt haben, tragen neben den externalisierten Kosten auch noch die bestehenden und kommenden Einschränkungen. Zukünftige Generationen stehen sogar vor dem Szenario, dass sie ein niedrigerer Lebensstandard erwartet, weil vorangegangene Generationen nicht gehandelt haben.

Für eine bessere Zukunft sind Verantwortung und Information also wesentliche Faktoren. Informationsvorsprünge der Industrie müssen für einen Produktzyklus von der Wiege zur Wiege genutzt werden, was auch eine bessere Reparierbarkeit mit sich bringen sollte. Und Verbraucher*innen müssen Zugang zu Informationen haben, um eine Chance zu bekommen, bewusst zu handeln.

Ein Schritt innerhalb dieses komplexen Zusammenspiels zahlreicher Veränderungen, die der Gesellschaft bevorstehen, ist aufzuzeigen, welche Klimarelevanz das eigene Konsumverhalten und damit verbunden das Abfallaufkommen hat. Abfälle zu vermeiden ist dabei das wichtigste Ziel, das Priorität in der gesamten Europäischen Union besitzt. Bisher steigt das Abfallaufkommen jedoch. Wie dies den individuellen CO₂-Fußabdruck beeinflusst und welchen Einfluss die Mülltrennung hat, das zeigt der Klimarechner der bonnorange AöR.

Der Klimarechner soll Konsument*innen informieren, aber nicht zu der Vernebelung durch die angeblich eigenverantwortlichen Entscheidungen des Individuums als Ausfluss der persönlichen Freiheit beitragen. Darum kann er nur ein kleiner Beitrag entlang der Abfallhierarchie sein, um zum Nachdenken anzuregen, damit am Ende so wenig Abfall wie möglich entsteht.